Brief an meine Schwester by Malton Leslie

Brief an meine Schwester by Malton Leslie

Autor:Malton, Leslie [Malton, Leslie]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Aufbau Digital
veröffentlicht: 2015-10-16T16:00:00+00:00


Vier Jahre Holly Hall. Eine schlimme Zeit. Du bekamst Krätze, magertest ab, brachst dir den Arm. Fingst an, auf Zehenspitzen zu gehen. Dad kommentierte das auf seine Art. Jetzt seiest du ja größer als ich, und drückte dir sanft auf den Kopf, damit du Bodenhaftung bekamst. Er, wir alle, hatten ja keine Ahnung, dass dieser Gang ein Alarmzeichen für den sich entwickelnden Spitzfuß ist.

Als ich Professor Bernd Wilken – Kinderneurologe, Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums am Klinikum Kassel und Rett-Experte in Deutschland – davon erzählte, sagte er nur: »Um Gottes willen!«

Aus medizinischer Sicht ein grober Fehler, klar. Aber vielleicht hat dich unser Unwissen vor dem Spitzfuß bewahrt.

Es dauerte ein paar Monate, bis ich es fertigbrachte, ihm – nach Lektüre des Zeitungsartikels über das Rett-Syndrom – zu schreiben. Der Zweifel, ob es wirklich stimmte, ob meine Schwester tatsächlich ein Rett-Mädchen ist, war einfach zu groß, und dass es tatsächlich eine Antwort auf die jahrzehntelang mit mir herumgeschleppten Fragen geben sollte, schien mir unvorstellbar. Vielleicht war das alles nur ein Wunschtraum? Und ich wollte diesen vielbeschäftigten Mann auch nicht mit zig Seiten behelligen. Irgendwann zerriss ich alle Entwürfe – und schrieb ihm nur ein paar Zeilen. Und zu meiner Verblüffung antwortete er sehr schnell.

Dieser Artikel war wie ein Baustein. Und wenn du einen Baustein hast, kannst du einen zweiten dazutun, einen dritten, du kannst immer weiter und weiter bauen.

Leider ging es dann aber nicht so weiter, wie ich gehofft hatte. Heute weiß ich ziemlich gut über diese Krankheit Bescheid, aber es nützt dir nichts. In Elm House kann ich niemanden dazu bringen, dich auf die Weise zu fördern, die dir gemäß wäre. Allein das ist ein Grund, die Hoffnung nicht aufzugeben, dich eines Tages doch wieder nach Europa – vielleicht sogar in deine Geburtsstadt Berlin – zurückzubringen.

Es macht mich sehr traurig, wenn ich an unsere Hilflosigkeit dir gegenüber denke. Dass wir so vieles falsch gemacht, dir manches Mal bestimmt auch weh getan haben. Und dass du dich nicht gewehrt hast. Wenngleich ich jetzt weiß, dass das Schmerzempfinden bei Rett stark reduziert ist.

Das Ende von Holly Hall war dann wohl, als Mama – sie wollte dich abholen – in eine sie aufs Äußerste bestürzende Szene geriet: Ein Junge geht mit einem Küchenmesser auf dich los. Der an sich schon ungeheuerliche Vorgang wurde noch gesteigert durch die Tatsache, dass niemand erklären konnte, wie der Junge an dieses Messer gekommen war. Die Aufsichtspflicht wurde hier offenbar nicht sehr ernst genommen.

Weitere Szenen aus diesen Jahren in Rockville, die mir noch heute das Blut in den Adern gefrieren lassen:

Wir wohnten in einer Anlage. Drei Apartment-häuser, zwischen ihnen Schwimmbäder, Tennisplätze, künstlich angelegte Teiche, kleine Inseln, auf die man über Stege gelangt. Wir beide entern eine der Inseln, treffen eine junge Frau, die auf einer der dort aufgestellten Bänke sitzt, ich komme mit ihr ins Gespräch, lasse dich für einen Moment aus den Augen. Plötzlich ein Plumps. Du bist ins Wasser gefallen. Und das Seltsame ist, du schreist und strampelst nicht, sondern liegst, ganz still, mit dem Gesicht nach unten, im Wasser, hast deine Hände auch noch unter Wasser zusammengepresst, bewegst dich nicht.



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